Wer als Handwerker beruflich in zwei Metern Höhe arbeitet, kommt um eine Grundausbildung für Höhenarbeiten fast nicht mehr herum. Bei Petzl kann man den korrekten Umgang mit «Persönlicher Schutzausrüstung gegen Absturz» – kurz PSAgA – erlernen. Ein Augenzeugenbericht.  

Ein Montagmorgen Ende Oktober: Drei Schreiner aus Wetzikon lassen ihre noch etwas kleinen Augen durch das Kletterzentrum Gaswerk in Greifensee schweifen. Die Halle ist noch leer. Im verglasten Theorieraum oberhalb des Bistros liegen für Urs, Matthias und Lars schon die Broschüren bereit, die unmissverständlich warnen: «In dieser Schulung werden Sie mit Szenarien aus ihrem Berufsleben konfrontiert.» Ausbilder Stefan Lindner nimmt diesen Punkt sehr ernst. Vor allem in der Deutschschweiz hat er für die Firma Altimum bereits viele Menschen in Sachen Absturz unterrichtet – vom Windkraftanlagenmonteur bis zur Putzkraft einer Zeitarbeitsfirma. Und er weiss genau, wie er um acht Uhr morgens seine Kursteilnehmer aufweckt. «Bei einigen Firmen kommst du als Handwerker ohne PSAgA Kurs nicht mal mehr aufs Gelände», sagt Lindner. Bei den Schreinern legt sich die Stirn in Falten. «Die Leiter wird immer mehr wegfallen. Der Trend geht zu kollektiver Schutzausrüstung, wie etwa Gerüsten, da ist die Suva stark dahinter», legt Lindner nach und sieht die Schreiner schon leicht ungläubig grinsen. «Und die grossen Konzerne oder börsennotierte Holdings verschärfen die Mindesthöhe, ab der Massnahmen gegen Absturz getroffen werden müssen, von den gesetzlichen zwei Metern auf 1.20 Meter oder gar 80 Zentimeter. Da ist die Sicherheit der Mitarbeitenden zentral.»   

Beste Bedingungen: Im Kletterzentrum Gaswerk in Greifensee steht ein spezieller Übungsturm für alle Schulungsteilnehmer bereit.

Ziel: Unfälle vermeiden 

Man kann erahnen, was hinter dem immer tieferen Stirnrunzeln der drei Schreiner nun vorgeht: Wir wollen doch einfach nur unsere Dachfenster setzen – wo ist das Problem? «Bei uns gab es noch nie einen Unfall», meint Matthias wenig später beim ersten Kaffee. «Aber wir wollen es nicht darauf ankommen lassen und vorbereitet sein.» Auch er kennt spätestens jetzt die Statistik, die Lindner nach einer Schätzfrage präsentiert: 9000 Arbeitsunfälle geschehen in der Schweiz pro Jahr ab einem halben Meter Höhe, 22 davon endeten im letzten Jahr tödlich. Für jede Baustelle braucht es gemäss Bauarbeitenverordnung ein Sicherheits- und Gesundheitsschutzkonzept, bei mehr als zwei Manntagen Arbeit ein Gerüst oder eine Einnetzung. Grau ist alle Theorie – bei Lindner gilt das nicht. Über Anekdoten vermittelt er das Grundwissen so einprägsam, dass man seinen Kollegen am liebsten gleich davon erzählen will. Stichwort Ablegereife: «Ein zwölf Jahre altes Seil, völlig aufgepelzt und längst reif zum Aussortieren – aber schuld ist das Sicherungsgerät!» Stichwort Personalisierung von Schutzausrüstung: «Niemals das Etikett rausschneiden, das ist wie die Fahrgestellnummer vom Auto.» Stichwort Personensicherung am Baukran: «Es gab mal einen Unfall, da ist einer…»  

Sorgfaltspflicht: Gewissenhaftes Arbeiten in der Höhe beginnt mit dem Check des Gstältlis am Boden.

 Glaubwürdig dank Praxisnähe  

Lindner ist natürlich auch selbst als Höhenkletterer unterwegs. Wenn die jährliche Kontrolle seiner Ausrüstung ansteht, schlägt die Stunde von Petzls ePPEcentre-Software, mit der Lindner seine Ausrüstung, rund 450 Posten verwaltet. Jeder Karabiner, jede Bandschlinge ist einzeln mit Produktnummer aufgeführt, alles ist nachprüfbar, alles redundant – das muss es auch sein, wenn er Hochregallager von Möbelhäusern einnetzt oder Schlacke aus Hochöfen schlägt.    

So weit geht es für die drei Schreiner aus Wetzikon heute aber nicht. Im PSAgA-Kurs bleiben die Füsse immer am Boden oder auf der Leiter, es wird keine Seilzugangstechnik gelehrt. «Ihr sollt am Ende des Tages wissen, welches unserer Produkte für welche Arbeitssituation gut ist», beruhigt Lindner. Er trichtert nochmals ein, was ein Sicherungspunkt aushalten muss (1,2 Tonnen, also keine Leitersprossen und keine Schneefanghaken), warum ein Ankerstich die Festigkeit von Bandschlingen verringert, wie man den Sturzraum berechnet und wann ein Verunfallter vorschriftmässig am Boden sein muss: Laut gesetzlicher Vorgabe nach spätestens 20 Minuten, «aber bewusstlos sind die meisten nach fünf bis sechs Minuten», warnt Lindner. Das übrigens sei auch der Grund, warum alle PSAgA-Arbeiter in der Lage sein sollten, sich selbst zu retten.  

Nach knapp zwei Stunden ist der Theorieteil erledigt. Als wäre dank Lindners Eindringlichkeit der Ernst der Lage nicht bereits sonnenklar, wird das Anlegen der Gurten zum Aha-Moment. Hinein in den Kombi-Gurt, daran das Auffangsystem aus MGO und ABSORBICAS (ähnlich einem überdimensionierten Klettersteigset), ein ASAP (mitlaufendes Auffanggerät) und das Positionierungsseil GRILLON. Da kommt ganz schön was zusammen. Während an den inzwischen aktiven Boulderern und Kletterern kaum mehr baumelt als ein Chalkbag und ein Grigri, dürfen die Schreiner gleich eine ganze Produktpalette testen. Natürlich entgeht auch dabei Lindners Augen nichts: Ein nicht verstautes Restgurtband bei Lars, ein zu lang abgebundenes Grillon bei Matthias, ein verdrehtes Gurtband bei Urs.  

  

Sonderfall: An der speziellen Stahlleiter des Übungsturms ist es zulässig, sich an einer Sprosse zu sichern. Übliche Alu-Leitern würden einer Sturzbelastung aber nicht standhalten.

Praktische Übungen am Turm 

Dann geht’s los: Rauf auf den Übungsturm und ein in die ersten Praxiserfahrungen: Eine Leiter herunterklettern. Richtig gesichert vortasten bis zur Dachkante. Über einen Eisenträger balancieren. Hört sich trivial an und ist es im Grunde auch, denn überall sind bereits Seilsicherungen vorbereitet. «Wenn man die auch noch selber installieren müsste, würde es erst richtig interessant werden», murmelt Matthias. Allerdings muss man sie auch mit dem richtigen Sicherungsmittel nutzen. Auf dem Flachdach rüber mit dem MGO, dann das Schrägdach runter mit dem ASAP – oder andersrum? Lindner dagegen fühlt sich offenbar erst in Vollmontur wie ein ganzer Mensch. Wie im Schlaf klippt er seine Sicherungen ein, justiert die Geräte, verstaut alles wieder am Gurt. Auch Industrieklettern ist eben eine Frage der Gewöhnung. Und mit jedem Durchgang am Übungsturm werden auch die Kursteilnehmer souveräner, werden mehr Auf- und Abstiegsmethoden kombiniert, Sicherungssysteme fliessend gewechselt. Lehrmeister Lindner wartet, bis alle vertraut sind mit den Gerätschaften, und lässt seine Schützlinge dann genüsslich in so manche Falle laufen: «Tu mal so, als müsstest du jetzt links was mit dem Akkuschrauber machen.» Lars pendelt von seinem Stand weg und hängt plötzlich in der Luft. Lektion gelernt: «Passt auf, dass ihr euch nicht irgendwo reinpositioniert, wo ihr nicht mehr rauskommt!» 

Arbeitssicherheit aus Leidenschaft 

Ein Exkurs am Boden behandelt die Überwurfsicherung. Lindner holt aus einem mannslangen Koffer eine riesige Schleuder, die «Bigshot». «Damit würde ich hier übers Hallendach kommen», meint Lindner. Fürs Erste reicht aber auch der Wurfbeutel, mit dem eine leichte Schnur über feste Strukturen geworfen und dann das Sicherungsseil nachgezogen wird. «Das fixiert ihr dann auf der anderen Hausseite an einem festen Anschlagpunkt. Theoretisch geht auch ein Auto, aber gab schon mal einen Unfall, als jemand mit so einem Auto dann zum Znüni weggefahren ist…» 

Lindners Karriere, das darf man an dieser Stelle wohl erwähnen, verlief ebenfalls nicht ganz unfallfrei. Nachdem sein Berufswunsch Bergführer an der Skiprüfung scheiterte, kam auch noch ein Arbeitsunfall dazu: «Von einer 170er Leiter runtergefallen. Beide Knöchel verstaucht, ein Knie verstaucht, das andere gebrochen. Zwölf Wochen krankgeschrieben.» Seitdem hat er sich der Arbeitssicherheit verschrieben – mit Leidenschaft. Es ärgert ihn, wenn Firmen Aufträge bekommen, weil sie es von der Leiter billiger machen als andere mit Kollektivschutz oder Seilsicherung. Oder wenn er auf der Baustelle andere erst vom Sinn und Zweck von Sicherheitsstandards überzeugen muss. Und als ehemaliger Teilnehmer der Eiskletter-WM in Saas-Fee kennt Lindner auch den gravierenden Unterschied zwischen Stürzen im Bergsport und bei der Höhenarbeit: Während das Stürzen beim Bergsport dazugehöre und im Hinterkopf stets «dabei» sei, stehe auf Montage die Arbeit im Vordergrund. «Auf einen Sturz ist man da nicht gefasst», so Lindner. Dazu komme schlicht und ergreifend der Fakt, das Menschen nun mal Fehler machen. Ein klassischer Fehler auf der Baustelle? «Mit falschem Material sichern», so Lindner. «In statisches Material zu stürzen, kann einem die Muskeln von den Knochen reissen.» Und der dümmste Fehler? «Mit der Flex markierte Karabiner. Drei Kerben in jedem», schüttelt Lindner den Kopf.  

Ohne Flaschenzug chancenlos: Altimum-Ausbilder Stefan Lindner zeigt, wie mithilfe des Jag Rescue Kits ein Verunfallter sicher zu Boden gelassen wird.

Kameradenrettung mit System 

Der letzte Teil der Praxisübungen betrifft die Kameradenrettung. Das Szenario ist simpel: Ein 70 kg schwerer Dummy wird über das Geländer am Übungsturm gehievt. «Jetzt versucht mal, ihn hochzuziehen. Ohne Rettungsgerät habt ihr keine Chance», feixt Lindner. Selbst mit vereinten Bärenkräften wäre in der Realität an der Dachrinne Schluss. Wie also kommt der Kamerad sicher an den Boden? «Bevor jetzt einer `Durchschneiden` sagt: Die Kappbergung ist immer das allerletzte Mittel», warnt Lindner. Zu gross die Gefahr, ein falsches Seil durchzuschneiden. Die Lösung lautet: Flaschenzug. Im Jag Rescue Kit, einem handlichen Sack, ist alles dafür Nötige enthalten. Mit dem bereits vorgefädelten Flaschenzug lässt sich der Verunfallte mit Leichtigkeit anheben – gerade so weit, dass man seine blockierte Sicherung lösen und ihn anschliessend zum Boden ablassen kann.  

Das beste Gefühl des Tages? Nicht der bestandene Wissenstest am Ende der Schulung, auch nicht die Erleichterung nach dem Abstreifen des Gurts kurz davor. Sondern das Gefühl, etwas in der Hand zu haben gegen das berühmte Restrisiko. Nicht, dass es am Ende heisst: «Es gab mal einen Unfall, bei dem…»